Kapitel 2: Wie Babys unsere Welt verändern

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Kapitel 2: Wie Babys unsere Welt verändern

30.3.2023

Um 8 Uhr morgens komme ich in München an. Die Busfahrt aus Köln war ruhig und der Bus relativ leer. Trotz Schlafmaske fiel es mir schwer einzuschlafen. An diese Art zu Reisen muss ich mich wieder gewöhnen. Tim wohnt mit Frau und Tochter in Erding. Seine Tochter ist erst ein halbes Jahr alt und ein richtiges Goldstück! Tim und ich sind gemeinsam zur Schule gegangen, das ist jetzt schon 12 Jahre her. Wie viel sich doch in der Zeit verändert hat.

Ich gehe zur S-Bahn-Haltestelle direkt neben dem ZOB und bin verblüfft. Fast eine Stunde braucht die S-Bahn von München aus bis nach Erding. Na gut: Das schaffe ich auch noch. Tim schickt mir die Adresse seiner alten Wohnung. Er ist in eine neue Wohnung gezogen und muss diese Wohnung innerhalb der nächsten Tage leerräumen. Erding ist ein ruhiger Ort und bekannt für sein Weißbier und seine Therme. Das Weißbier werde ich heute noch probieren, die Therme vielleicht das nächste Mal. Es sind nur 5 Minuten zu Fuß vom Bahnhof Erding bis zum Ziel. Das Wetter ist bewölkt und kalt, jedoch regnet es bisher nicht. Ich klingel an einem kleinen Mehrfamilienhaus und Tim lässt mich hinein. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss und Tim begrüßt mich an der Türschwelle seiner Wohnung. Die Umarmung fiel uns schwerer als sonst - ich mit den Rucksäcken und er mit seiner Tochter Mia auf dem Arm. Mia ist von meiner ungewöhnlich breiten Gestalt gar nicht eingeschüchtert und nimmt mit ihrer ganzen Hand meinen kleinen Finger zur Begrüßung. Nur Tim wirkt etwas müde, aber das ist ja ganz normal bei jungen Eltern.

Er legt Mia auf eine Unterlage in der Mitte des ehemaligen Wohnzimmers. Es ist eine schöne Zwei-Zimmer-Wohnung mit Garten, die nun fast ausgeräumt auf den nächsten Mieter wartet. Ich spiele kurz mit der Kleinen. Dann sammeln wir ein paar Werkzeugkästen zusammen und fahren gemeinsam in die neue Wohnung, um zu frühstücken.

Beim Frühstück planen wir den Tag. Es ist verkaufsoffener Sonntag in Erding und in der Innenstadt findet ein Streetfood-Festival statt. Der Plan steht also, jedoch muss ich heute noch entscheiden, wie die nächsten Tage aussehen sollen. Morgen wird bundesweit der ÖPNV bestreikt. Wenn ich nicht aufpasse, sitze ich in München fest und.. ich will ja weiter nach Wien! Ich schaue auf mein Handy und sehe eine Nachricht von einer ukrainischen Freundin, Oksana, die in den sozialen Netzwerken gesehen hat, dass ich in München bin: “Wenn du willst, kannst du zwei Nächte bei uns übernachten. Ich würde mich freuen, dich zu sehen!”. Ich spreche kurz mit Tim und er bietet mir an, mich abends zu Oksana zu fahren. Klasse!

Wir machen uns also mit Mia auf dem Weg in die Innenstadt zum Streetfood-Festival. Es nieselt gelegentlich, aber das Wetter hält sich. Tim zeigt mir interessante Orte in der Stadt, wie zum Beispiel einen Glockenturm, der nicht auf der Kirche sondern neben der Kirche steht. Er erzählt von den legendären Triathlonmeisterschaften mit Weltstars in der Innenstadt. Wir gönnen uns gefülltes Laugenbrot (oder etwas in der Art) und entscheiden uns im Anschluss für ein alkoholfreies Weizenbier im Erdinger Weißbräu.

Dort kommen wir über meine Reise ins Gespräch. “Da prallen wirklich Welten aufeinander”, sagt er. Als frischgebackener Vater, Ehemann und Wohnungseigentümer erscheint ihm meine Reise mehr als exotisch. Aber man muss keine Weltreise machen, um Glück zu finden. Es ist süß zuzuschauen, wie Tim versucht sein Bier zu trinken, während Mia einen Bierdeckel nach dem anderen auf den Boden wirft. Tatsächlich kann man die Kleine kaum anschauen, ohne gleichzeitig lächeln zu müssen. Ich frage ihn, wie es ist Vater zu sein.

Oh, ich erinnere mich noch an die Geburt! Im ersten Moment konnte ich gar nicht verstehen, dass ich Vater geworden bin. Erst am zweiten Tag ist die Hormonbombe eingeschlagen und ich fühlte eine ganz neue Art von Glücksgefühl. Es ist verrückt, welche Bindung man zu seinem Kind aufbaut. Mia hat unsere Welt ziemlich durcheinander gebracht und uns das letzte halbe Jahr kaum schlafen gelassen. Aber gleichzeitig gibt sie uns jeden Tag so viel zurück!

Mit dem Kind hat sich seine Welt verändert und nun darf er sie wieder von vorn entdecken - zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. Ein schöner Gedanke! Später schreibe ich in mein Büchlein:

  • Lektion Nr. 4: Eine Familie zu gründen ist wie eine wilde Abenteuerfahrt durchs Glück.

Gedanklich stelle ich mir ein Segelschiff in unruhigen Gewässern vor - die beiden Eltern am Steuer mit dem Kind in den Armen - angetrieben von Durchhaltekraft, Verzicht und Liebe.

Auf dem Weg zurück in die Wohnung, werden wir von einem Hagelschauer überrascht und kommen etwas durchnässt Zuhause an. Tim kocht uns Abendessen, während ich Mia ein Nasenflötenkonzert gebe. Insbesondere gefällt ihr das Lied vom Roten Pferd, das sich einfach umgekehrt hat. Sie dreht sich auf den Bauch und fängt wie wild an zu wippen. Toll!

Beim Essen kommen sprechen wir über das Glücksempfinden und inwiefern es mit Vergleichen der eigenen Situation zu tun hat. “Weißt du noch, als ich früher als Fluglotse am Flughafen gearbeitet habe? Es war mein erster richtiger Job nach dem Abitur und ich hatte noch überhaupt keine Orientierung darüber, was ein normales Gehalt ist. Fluglotsen haben kein normales Gehalt.” Er erzählt mir von seinen ehemaligen Kollegen, die beiläufig bei der Arbeit erzählten, dass sie sich heute spontan einen neuen Audi A4 gekauft haben oder wieder einmal im Luxusurlaub in Dubai waren. In solchen Situationen traut man sich kaum, von seinem Familien-Camping-Urlaub im Zelt oder Wohnwagen in Holland zu erzählen - aus Angst, belächelt zu werden. “Letztendlich hatte ich ein Umfeld, dass mir ein ganz falsches Bild von Glück gegeben hat. Aber das habe ich erst später verstanden”, sagte er.

  • Lektion Nr. 5: Glück ist nicht, sich mit Menschen zu vergleichen, die mehr haben als du.
Veröffentlicht am: 15.4.2023