Kapitel 1: Wir leben in einer schwierigen Zeit

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Kapitel 1: Wir leben in einer schwierigen Zeit

28.3.2023

Bevor ich von München erzählen kann, muss ich auf meinen Tag in Köln zurückkommen. An diesem Tag traf ich zwei Freundinnen, die ich sehr gern habe - eine aus der Ukraine, Alina*, und eine aus Russland, Dana. Ich hatte das Vergnügen, Alina auf ihr erstes Kölsch in der Lieblingsbar meiner Schwester einzuladen und in Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit in der Ukraine zu schwelgen.

Wir diskutierten viel und intensiv über das Thema Glück. Sie ist der Meinung, dass das Glücksgefühl eine chemische Reaktion in unserem Körper ist und durch Konditionierung in der Kindheit geformt wird. Ich argumentiere eher mit philosophischen Ansichtsweisen über das Glück. Alina sagt, dass sie glücklich ist. Gleichwohl bemerke ich Traurigkeit in ihrem Blick. Als ich sie darauf anspreche, erzählt sie mir von ihrer aktuellen familiären Situation. Ihre Familie ist in Zaporizhzhia geblieben und braucht ihre Unterstützung:

Meine Mutter erzählt mir ständig, wie sehr sie mich vor Ort vermisst. Ich fühle mich etwas schuldig deswegen und helfe so gut ich kann. Ich vermisse meine Heimat. Wenn ich jedoch in Zaporizhzhia der ständigen Gefahr von Raketeneinschlägen ausgesetzt bin, zieht es mich wieder in die Niederlande.

Ich verstehe das Dilemma, in dem sich Alina befindet. Soll sie zurück zu ihrer Familie, in eine Stadt, die zu gefährlich ist, um ihr eine Perspektive zu geben? Oder bleibt sie in den Niederlanden, wo ihr Aufenthaltstitel mit Kriegsende ausläuft und ihr ebenso eine Perspektive verwehrt. Ob es eine dritte Option gibt, möchte ich wissen. Bevor wir eine Antwort finden, schweifen wir ab und streiten darüber, ob ein Glas halb leer oder halb voll ist. Ich schreibe in mein Buch:

  • Lektion Nr. 1: Wenn das Leben dir zwei Optionen bietet, die dich langfristig unglücklich machen, vergiss nicht nach der dritten zu suchen.

Ich muss schmunzeln. Wie einfach das klingt und uns doch so schwer fällt. Wir fangen an über Hunde zu sprechen. Alina und ihre Mutter haben sich in ZP (Kurzform für Zaporizhzhia) viel um Hunde in Not gekümmert. Dabei hat sie viele Hunde in ihren letzten Tagen betreut. Sie erzählt mir, dass sie wieder einen Hund möchte, es die aktuelle Situation aber nicht zulasse. “Patrick, ich habe Zuhause 15 Hunde, die alle bald sterben werden. Der Schmerz wird für mich unerträglich. Ich will nicht daran denken, wie viele Hunde ich bis zu meinem Lebensende noch begraben muss.” Ich frage sie, ob sie ihr verbleibenden Lebensjahre in Hundeleben rechnet und wir müssen beide lachen. Ich nehme wieder mein Buch und notiere:

  • Lektion Nr. 3: Deine Staatsangehörigkeit kann dir die Welt des Glücks eröffnen oder dich ins Unglück stürzen.

Ich bin einen kurzen Moment dankbar für meinen deutschen Pass und muss dann an deutsche Regimekritiker im Ausland während des Zweiten Weltkrieges denken. Sie müssen sich ähnlich gefühlt haben. Ich frage mich, was es für mein Glück bedeuten würde, wenn mein Heimatland wieder einen Krieg beginnen würde. Bei dem Gedanken schaudert es mir.

Es ist schön zu hören, wie Dana über die Zeit mit ihrer Oma erzählt. Ihre Oma ist über 90 und kann nur noch liegen. Im Haushalt ist so viel zu tun, dass Dana keine Langeweile bekam. Auch wenn sie 3 Wochen Urlaub dafür aufopfern musste - es tat ihr gut, sich um ihre Oma zu kümmern. Froh darüber, mit etwas Positiven den Tag zu beenden, notiere ich:

  • Lektion Nr. 4: Glück ist, sich um seine Familie zu kümmern.

Wir verabschieden uns und ich mache mich auf den Weg zum Flughafen. Um halb 11 Uhr abends bringt mich der Bus Richtung Süden nach München, wo mich Tim erwartet.


Ein paar Tage später schickt mir Dana eine Nachricht. Sie hat sich viele Gedanken über Lektion Nr. 3 gemacht.

Vor 75-80 Jahre hassten viele Menschen Deutschland, wollten leidenschaftlich, dass das Land nicht existiert. Heute aber wollen viele hier leben, auch Juden, Araber, Russen usw. Ich meine (und hoffe) nur, dass man vielleicht in paar Jahrzehnten auch in Russland leben will und es schätzen kann 🙏 Dafür muss aber natürlich viel getan werden: Erinnerungskultur und -politik, Reformen, Änderungen in Köpfen usw… Ob wir es schaffen?

… das kann nur die Zukunft zeigen. Jedoch freue ich mich, dass Dana noch Hoffnung hat und füge der Lektion Nr. 3 einen Unterpunkt zu.

  • Lektion Nr. 3 a. Wenn man an eine gute Zukunft glaubt und für diese kämpft, dann gibt es Hoffnung auf Glück.

Alle Namen in den Blogeinträgen sind geändert.

Veröffentlicht am: 2.4.2023